Aus den Lebenserinnerungen meines Vaters H. M. Siebert


Ostern 1945 - Die friedliche Besetzung durch die Amerikaner

 

Mein Vater betreute zeitweise während des Krieges alle evangelischen Gemeinden der Kirchspiele Burghaun, Hünfeld und Langenschwarz. Er war auf Antrag des Landeskirchenamtes  "uk" (unabkömmlich) gestellt. Weil ich seine Schilderungen der letzten Kriegstage in unserer Gegend so lebendig und interessant finde, möchte ich sie hier in Ausschnitten weitergeben. In Klammern habe ich hier und da erklärende Hinweise kursiv eingefügt. Andere nicht kursive Erläuterungen in Klammern stammen von meinem Vater selbst. 

Mein Vater erzählt:

 

Vater Siebert 1991
Vater Siebert 1991

Die Paulsens stehen vor der Tür 

 

Mitte Januar begann der dramatische Endakt des Krieges, der Zusammenbruch Deutschlands, der Fronten im Osten und das Näherrücken der Alliierten im Westen. Hitler und seine Schergen waren entschlossen, das ganze Volk in den Untergang des "1000 jährigen Reiches", des "ewigen Deutschland" mit hineinzureißen. Und es gab 1945 bis Ende März noch genug Verblendete, die an eine Wendung des Krieges und an den "Endsieg" dieses Führers ins Nichts glaubten.

Am 3. Februar 1945 stand Ingo Paulsen mit ihren drei kleinen Kindern  (befreundete Familie aus dem Baltikum) vor unserer Tür, während ihre Mutter (Frau Lilla von Krause) und ihre Schwester (Dido von Krause) auf dem Bahnhof in Burghaun warteten. Nun, die holte ich auch noch ins Pfarrhaus, und wir dankten Gott, dass Ihnen die Flucht aus dem Chaos im Osten gelungen war. ... Im Juli 1945 holte ...

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"Diese nahmen Sie so liebevoll auf, nicht bloß Tage, nicht bloß Wochen, sondern - wer weiß wie lange ...." So schrieb (und malte) Frau von Krause im Gästebuch über die Aufnahme in unserer Familie, als sie im September 1945 das Pfarrhaus wieder verließ.
"Diese nahmen Sie so liebevoll auf, nicht bloß Tage, nicht bloß Wochen, sondern - wer weiß wie lange ...." So schrieb (und malte) Frau von Krause im Gästebuch über die Aufnahme in unserer Familie, als sie im September 1945 das Pfarrhaus wieder verließ.

 

Das Haus ist praktisch überfüllt

 

Wir mussten im Haus sehr zusammenrücken. Außer der Tante Johanna hatte Frau Blum aus Frankfurt (Bekannte von Tante Johanna), die ihren Mann und alle Habe bei einem Bombenangriff verloren hatte, bei uns Obdach und Bleibe gefunden.

In der obersten Etage wohnte Frau Euting (Winks Emilie) mit ihren beiden kleinen Buben. Ihr Mann war gefallen, sie selbst mit ihrer Schwiegermutter aus Frankfurt in die alte Heimat evakuiert. In Hilde Brenzel (aus Michelsrombach) hatten wir eine willige, tüchtige und fröhliche Hausgehilfin.

Nun waren die 6 Paulsens und v. Krauses dazu gekommen. Die alte Frau v. Krause und Tochter Dido brachte ich im Dorf unter, zuerst bei meiner Mutter und Frau Heß (Kaufhaus) zum Schlafen, tagsüber waren sie eigentlich im Pfarrhaus. Was musste in diesen Wochen und Monaten alles besorgt und beschafft werden. (Ofen, Holz im Wald, Lebensmittel über die karger werdenden Rationen hinaus usw.) Wie oft ging es des Nachts in den Keller und auch am Tage, wenn die Flieger kamen.  

Es war schon ein großes Wunder , dass gerade auch Margret alles so schaffen konnte, was zu schaffen war...

Rechts von der Tanne in der Bildmitte steht das evangelische Pfarrhaus, rechts daneben der Kindergarten.
Rechts von der Tanne in der Bildmitte steht das evangelische Pfarrhaus, rechts daneben der Kindergarten.

 

Ostern, Ostern - Frühlingswehen ...  

 

Inzwischen kamen die Amerikaner immer näher. Am Gründonnerstag, den 29. 3. 1945 feierten wir in der Burghauner Kirche mit einer kleinen Gemeinde das Heilige Abendmahl schon in Erwartung der amerikanischen Truppen, deren Panzerverbände wir rollen hörten auf dem Marsch nach Thüringen.

Am Karfreitag, wir saßen gerade beim Essen, klopfte ein völlig erschöpftes Weib bei uns an und bat um Rast und Labe. Gehbehindert war sie mit dem Fahrrad unterwegs von Frankfurt und wollte nach Schleswig-Holstein. Sie blieb dann bei uns bis zum 2. Ostertag, wo sie auf eigenen Wunsch losfuhr, aber nur bis Rothenkirchen kam und bei der "Parrgarten Marich" für einige Zeit Aufnahme fand.

Fräulein Ida Daegelow blieb über ihr Karfreitagserlebnis 1945 hinaus mit uns verbunden bis zum heutigen Tag. (Inzwischen ist sie längst verstorben.)

 

Im Rothenkirchener Pfarrgarten befand sich das alte Pfarrhaus. In der Haustür steht die "Parrgartenmarich", die das Haus während unserer Zeit bewohnte. 

Als ich am Karsamstag Vormittag in Rothenkirchen einen Eisenbahner aus Bebra beerdigte, der zwischen Fulda und Hersfeld bei einem Fliegerangriff erschossen war – es waren nur die Sargträger und ich auf dem Friedhof – wurden wir aus der Gegend von Sinzig (zwischen Rothenkirchen und dem Bahnübergang nach Wehrda) beschossen und mussten schnell in volle Deckung gehen. Mit dem Fahrrad machte ich mich dann eiligst nach Hause. Offenbar war Burghaun und der Hünfelder Raum noch "feindfrei".

Es kam der erste Ostertag, der 1.4.1945. Für Langenschwarz hatte ich Pfarrer Stein engagiert, Pfarrer aus Gevelsberg, der in Hünfeld als Halbarier fronen musste. (Siegfried Stein hatte als "Halbjude" Zwangsarbeit beim Bau einer Munitionsfabrik zu leisten.)  Er erlebte die Besetzung durch die Amerikaner zusammen mit seinem Freund und Leidensgenossen, dem Landrat a.D. Loeb (auch ein internierter "Halbjude"), bei Frau Pfarrer Krück in Langenschwarz. Stein und Loeb waren ansonsten treue Besucher des Gottesdienstes in Hünfeld.

Nach Großenmoor hatte ich Pfarrer H. Monnard geschickt, einst von meinem Vater in Frankfurt konfirmiert. Er war am Karfreitag bei uns aufgetaucht, hatte sich bei der Wehrmacht offenbar selbst entlassen und seine Uniform und andere Dinge im Pfarrgarten vergraben. "Meine Frauen" (Ehefrau, Mutter) drängten darauf, ihn am Karsamstag abzuschieben, weil sie befürchteten, er könnte bei uns noch als Deserteur aufgegriffen werden.

 

Konfirmation in Rothenkirchen

 

Als ich am Ostermorgen nach Rothenkirchen zum Konfirmationsgottesdienst fahren wollte, war gerade eine heftige Knallerei im Gange, offensichtlich in unmittelbarer Nähe von Sargenzell – Hünfeld – Mackenzell. "Meine Frauen" ließen mich erst fahren, als wieder Ruhe eingetreten war. Mit dem Fahrrad fuhr ich nach Rothenkirchen, vor dem Burghauner Tunnel hielten mich unsere Soldaten an und wollten mich nicht nach Rothenkirchen fahren lassen. "Da sind schon die Amerikaner", meinten sie. Als ich ihnen sagte, ich sei Pfarrer, hätte dort Konfirmation und die armen Kinder warteten dort seit 2 Stunden auf mich, ließen sie mich passieren und sagten: "Beten Sie auch für uns ein Vaterunser."

Obwohl ich mit zweistündiger Verspätung in Rothenkirchen eintraf, hatten mich die Kinder noch erwartet, ich höre sie heute noch schreien und jubeln: "Der Parr kimmt, der Parr kimmt!" Nun ging alles sehr schnell, gerafft und gekürzt. Predigttext: 1. Petrus 1, 21: "Gott hat Jesus Christus von den Toten auferweckt und ihm die Herrlichkeit gegeben, auf dass ihr Glauben und  Hoffnung zu Gott haben möchtet."

Als die große Gemeinde das Gotteshaus verließ, waren die amerikanischen Truppen im Dorf. Es war eine friedliche Besetzung, wie sie anständiger kaum hätte sein können. Die Häuser, in denen Konfirmation war, blieben sogar von der Einquartierung verschont.

Ich machte, wie üblich, meine Runde bei den Konfirmandenfamilien und wollte dann am Nachmittag, das Fahrrad schwer beladen mit Konfirmationskuchen, nach Hause fahren. Vorsichtshalber wählte ich nicht die Landstraße, sondern den Weg "Hinter dem Korn" am linken Hauneufer. Als ich aber kaum aus dem Dorf war, pfiff schon eine Kugel an mir vorbei, und ich ging schnell in einem Graben in Deckung. Ein paar Minuten später waren zwei "Amis" mit ihrem Jeep neben mir; ich musste ins Dorf zurück und konnte an diesem Tag nicht mehr nach Burghaun. Zum Glück traf ich noch einen Burghauner, der zu Fuß von Kassel kam und durch den Hühnerberg nach Burghaun wollte. Er versprach mir, meine Frau zu benachrichtigen, dass ich erst am 2. Ostertag heim käme.

So erlebten sie im Pfarrhaus in Burghaun die Besetzung durch die Amerikaner ohne mich, 10 Kinder und 10 Frauen! Unsere Kinder: Martin, Hildegard, Elisabeth, Friedhlem und Heinz (Mein ältester Bruder Hans war bei dem Angriff auf Hünfeld am 21.11.1944 ums Leben gekommen). Weiter: Hans Frieder, Ursula und Annemarie Paulsen, Bernd und Rolf Euting, meine Frau Margret, meine Mutter, Tante Johanna, Frau Blum, Hilde Brenzel, Ingo Paulsen, Frau von Krause, Dido von Krause, Frau Euting und Fräulein Ida Daegelow.

Als gegen Abend ein paar Amis ins Pfarrhaus kamen und nach deutschen Soldaten fragten, auch einige der Kinder im Keller sahen und die dort aufgestellten Liegestühle, fragte einer der Soldaten Margret: "Warum im Keller?" Sie erklärte ihnen: "Aus Angst vor Bumbum." Worauf der Amerikaner sagte: "Nix mehr Bumbum!" Margret sagte mir, als ich dies jetzt (1978) niederschrieb, auf diese Antwort hin hätte sie vor innerer Bewegung bitterlich geweint – eine Lösung auf die Aufregungen und Anspannungen der letzten Tage.

Ich durfte am 2. Ostertag mit Genehmigung der Amerikaner von Rothenkirchen nach Hause fahren und hielt um 14 Uhr in der Kirche einen Ostergottesdienst. 

 

Besetzung - Befreiung

 

Gleich nach der Besetzung des Kreises Hünfeld bekam ich als einer der ersten einen Passierschein zur Wahrnehmung meiner Amtsgeschäfte.  

 

Es war ein kaum zu beschreibender Zwiespalt, in dem wir uns allermeist als Christen befanden. Einerseits sahen wir in den Amerikanern die Befreier von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Adolf Hitlers, die auch den Druck der Verfolgung von den Kirchen nahm. Andererseits erfüllte uns der Untergang unseres Vaterlandes aber auch mit Trauer und Schmerz. Wir sahen in dem ganzen Zusammenbruch das Gericht Gottes über unserem Volk, das sich teils gewollt, teils ungewollt, dem bösen Prinzip verschrieben hatte.

Doch noch war der Krieg nicht aus. Am 20.4.1945 hieß es im englischen Rundfunk: "Heute feiert Adolf Hitler seinen letzten Geburtstag." Und Goebbels beschwor an diesem Tag noch einmal die Deutschen mit der bevorstehenden Wende des Schicksals.

Am 8. Mai war mit der deutschen Kapitulation der Krieg zu Ende.

Der größte Druck war von uns genommen, aber es blieben viele Nöte, Ängste und Sorgen und neue kamen hinzu. .... "

 

Familie Siebert Sommer 1949 hinter der Gartenlaube im Pfarrgarten - ohne Hans, aber mit dem neugeborenen Schwesterchen Maria
Familie Siebert Sommer 1949 hinter der Gartenlaube im Pfarrgarten - ohne Hans, aber mit dem neugeborenen Schwesterchen Maria